Caruso ist nicht mehr
In seiner äusserst liebevollen Art gewann er die Herzen aller, die ihm begegneten. Seinen behinderten Wohngenossen, jünger und temperamentvoller als er, akzeptierte er vorbehaltlos. Caruso fühlte sich bei uns von Anbeginn an zu Hause. Sein Glück, seine Zufriedenheit mit sich und der Welt drückte er mehrmals am Tage durch geruhsames «Stämpferlen» auf seiner (meiner) Wolljacke aus. Den Schabernack seines Mitbewohners («Räuberlein» macht seinem Namen alle Ehre) liess er geduldig über sich ergehen, wohl wissend, dass diese jugendliche Unbekümmertheit weder böse noch ernst gemeint war. Wie oft wurde er dabei aus seinem Schlummer aufgeweckt, weil Räuberlein ihn in seine Kletterkünste und Spielereien mit einbezogen hatte! Eben wähnte er sich noch entrückt in Träumereien, in seiner bevorzugten Schlafposition, auf dem Rücken liegend, die Beine gegen Himmel ragend. Wenn die Lust am Spielen gesiegt hatte, begann ein munteres Treiben und Jagen, wobei Caruso seinem sehbehinderten Gefährten gegenüber immer eine gewisse Rücksichtsnahme bewahrte! Achtung vor dem Schwächeren war für ihn immer eine Selbstverständlichkeit.
Carusos vornehme, feine Art zeichnete ihn in seinem ganzen Benehmen aus. Statt an den Möbeln schärfte er seine Krallen mehrmals täglich an seinem Kletterbaum. Nie jedoch hat irgend jemand je einen Kratzer von Caruso abbekommen.
Seine Augen schienen alles zu durchdringen. Seinem wachsamen Blick entging nichts. Wir verstanden uns auch ohne Worte. Seine Ruhe und Gelassenheit wirkten wohltuend auf Seele und Gemüt. Weise wie er war, hätte er längst begriffen, dass er dem Leben auf seine eigene Art das Beste abgewonnen hatte.
Ich wage anzunehmen, dass Carusos Vergangenheit geprägt worden war durch Menschen, bei denen er es gut hatte. Wie lange er mit seiner Krankheit, die ja bisher nicht ausgebrochen war, zu leben hatte, konnte niemand im voraus ahnen.
Caruso hinterlässt bei mir und nicht zuletzt bei seinem kleinen Wohngenossen eine schmerzliche Lücke. Er, stellvertretend für alle lebenden Geschöpfe, hat mich daran erinnert, dass Leben Qualität und nicht Quantität bedeutet. Nicht die Anzahl Lebensjahre ist von Bedeutung, wohl aber die Art und Weise, wie wir mit der uns gegebenen Zeitspanne umgehen können, was wir aus uns selbst, für uns und für andere aus der Fülle des Lebens zu schöpfen vermögen.
Caruso hat seine Zeit ausgekostet und mir dabei eine Vielzahl von Werten ins Bewusstsein gerufen, die wir Menschen immer weniger bis kaum mehr beachten. In seiner Sanftmut und Güte empfand man ihn immer nur als Gebender, allein seine stille Präsenz bedeutete ein wundervolles Geschenk.
Caruso hatte offenbar seine ganz persönlichen Lebensaufgaben schon bereits vor seiner Ankunft im Tierheim Gals gelöst.
Obwohl ich ihn schmerzlich vermisse, schätze ich mich glücklich, dass er meinen Weg gekreuzt hat. In Erinnerung an all die unermesslichen Kostbarkeiten, die er sich in seinem Dasein schon längst vor seinem Eintritt in mein Leben erworben hatte, wird mir Caruso allzeit gegenwärtig bleiben.
Das Schicksal wollte es, dass wir unsere wundervolle, gemeinsame Zeit nur kurz, aber äusserst intensiv erleben durften. Niemals möchte ich sie missen!
Für Caruso und seine Mitgeschöpfe wünsche ich mir, dass wir Menschen unsere Sinne zu schärfen vermöchten. So gelänge es uns vermehrt, diese einfühlsamen, sensiblen Geschöpfe, in ihrer ganzen Grösse und Überlegenheit, in ihrer Kraft und nicht zuletzt in ihrer Weisheit, die sie uns Menschen voraus haben, und die wir so gerne «nur» als Instinkt abtun, richtig zu verstehen. Caruso hat mich eines besseren belehrt, und dafür werde ich ihm für den Rest meines Lebens in tiefer Dankbarkeit verbunden sein.
Mina Schreyer